Am 16.2.2019 findet der 3. Studientag „Dialogische Kultur“ mit Paula Kühne, Mitwirkende am Hardenberg Institut, und Johanna Hueck, Doktorandin im Fach Philosophie, statt. Die Referentinnen gestalten den Tag zum Thema „Empfänglichkeit und Vernunft – ein Gespräch über Schillers Freiheitsbegriff“ und geben näheren Einblick, was uns an diesem Tag erwarten darf.
Paula Kühne: Uns ist es wichtig, zunächst die Grundbewegung von Schillers Denken gemeinsam mit den Teilnehmenden nachzuvollziehen. Friedrich Schiller ist bekanntlich einer der leuchtenden Sterne am Himmel der Geistesentwicklung, der sich mit der Frage der Menschwerdung beschäftigt hat. Dabei vertritt er in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ die Ansicht, dass es zwei Arten der Entwicklung gibt. Auf der einen Seite die natürliche Entwicklung, in der der Mensch von Natur aus bis zu einer bestimmten Stufe geführt wird, und auf der anderen Seite die eigentliche Menschwerdung, die erst mit dem Ende der natürlichen Entwicklung einsetzt und immer auf dem Spiel steht.
Wenn Schiller hier also diese Feststellung macht, so bezieht er sich damit auf die alte Auffassung, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer natürlichen Entwicklung, die sich innerhalb der Notwendigkeiten bzw. Gesetzmäßigkeiten der Natur abspielt, und den Menschen bis zur Ausbildung der Vernunft, d.h. des Denkens führt und einer „kultürlichen“ Entwicklung, die im Gegensatz dazu nur aus freier Wahl geschieht und die Ausbildung der Moral zum Ziel hat.
Johanna Hueck: Und diese beiden Seiten, die natürliche und die idealische Seite des Menschen, die beide im Ich als Nadelöhr zusammentreffen, fasst Schiller bekanntlich in den beiden Grundtrieben: Dem Stofftrieb als dem natürlichen bzw. sinnlichen Trieb, der sich auf das Gewordene, auf die sinnliche Welt richtet, der wahrnimmt und empfindet. Und dem Formtrieb, der sich im Denken des Menschen ausspricht.
Worauf es ankommt für Schiller ist die Versöhnung und Übereinstimmung des Natürlichen mit dem Geistigen im Menschen, eine Versöhnung, die eben durch einen freien Entschluss und eine kultürliche Entwicklung, ein Streben erreicht werden kann. Was das kultürliche Streben des Menschen nun zu leisten hat ist, durch Steigerung der beiden Polaritäten zu einer höheren Einheit zu gelangen.
Paula Kühne: Die Grundbewegung Schillers in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen ist auch für unsere heutige Zeit sehr aktuell. Dabei muss man natürlich die Unterschiede zwischen unserer Gegenwart und seiner Zeit deutlich sehen. Wir wollen diese Unterschiede anhand der Philosophie eines Denkers des 20. Jahrhunderts verdeutlichen: Günther Anders. Anders war Zeit seines Lebens ein unangepasster Mensch, der mit ungeheurer Weitsichtigkeit, diagnostischer Klarsicht und scharfer Zunge als Zeuge seiner Zeit publizistisch auftrat.
Wie viele Intellektuelle, die in die Vereinigten Staaten geflohen waren, war auch Anders damit konfrontiert, die Ereignisse, die sich in Europa abspielten, aus der großen geographischen Entfernung und der ungeheuerlichen Vorstellungsferne zu fassen, um dabei vor allem eine Erfahrung zu machen: diesen Ereignissen seelisch nicht gewachsen zu sein. Was ihn, wie so viele seiner Zeitgenossen, umtreibt, ist die ungeheuerliche Tatsache, dass einerseits die technischen Möglichkeiten soweit entwickelt sind, dass in den hocheffizient „arbeitenden“ Vernichtungslagern das Unmenschliche zur durchrationalisierten Maschinerie wird, und dass er sich andererseits konfrontiert sieht mit der völligen Unfähigkeit, sich diese Ungeheuerlichkeit auch nur vorzustellen, geschweige denn sie nachzufühlen.
Johanna Hueck: Wir werden also mit Günther Anders eine Diagnose unserer Gegenwart vornehmen und fragen dann, wie wir aus dieser Perspektive Schillers Forderungen nach einer ästhetischen Selbstentwicklung des Menschen verstehen können. Dabei werden wir herausarbeiten, dass gerade die Forderung nach einem Denken und Handeln, das – philosophisch gesprochen – den Aspekt der Wahrheit nicht aufgibt, wesentlich ist.
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Leseeindruck des neuen Buches von Karl-Martin Dietz, "Sokrates: ich - hier - jetzt" (von Angelika Sandtmann)
Besonders angesprochen an dem Buch hat mich, dass Karl-Martin Dietz hier sowohl an seine früheren bewusstseinsgeschichtlichen Arbeiten zur griechischen Geistesgeschichte anknüpft als auch seinen Darstellungen zu einer lebenspraktischen Dialogischen Kultur in den letzten 20 Jahren eine nochmal erweiterte Grundlage gibt, ohne dies im Buch explizit artikulieren zu müssen. Insofern bereichert es in idealer Weise die Buchreihe, zumal Sokrates mit Recht als der Erfinder des Dialogs im Sinne einer besonderen Denk- und Gesprächsform gelten kann. So fasziniert es mich, wie das Eintauchen in die damalige antike geistesgeschichtliche Situation und das besondere sokratische Denken hilft, aus den meist unhinterfragten Selbstverständlichkeiten unseres gegenwärtigen Bewusstseins herauszukommen und sie kritisch befragen zu können. Im letzten Kapitel weist der Autor selbst auf Parallelen im 21. Jahrhundert hin. Mir ist bei der Lektüre durch die Gegenüberstellung von Sophistik und sokratischem Denken sehr viel an unserer Gegenwart klar geworden. Hierzu zwei Beispiele:
1) Recht anschaulich wird die besondere Zeitsituation beschrieben, in der Sokrates lebte. Es war die Zeit der damals neuen Demokratie in Athen, in der erstmalig jeder Einzelne selbst die Frage nach der areté(wörtlich: „Bestform“) des Menschen stellen konnte. Dem einzelnen Menschen so etwas wie ein bewusstes Innenleben (psyche, „Seele“) als Wesensmerkmal zuzusprechen, war ebenfalls neu in dieser Zeit. Beides stellte an die damaligen Menschen in Griechenland hohe Anforderungen.
Hier sehe ich eine gewisse Parallele zur besonderen Situation des modernen Menschen in der gegenwärtig immer noch weiter fortschreitenden Individualisierung, die sehr schnell zu einer Überforderung des Einzelnen und in der Folge dann zu Fluchtbewegungen daraus führen kann.
2) Sehr aufschlussreich wurde es für mich, nachzuverfolgen, wie schöpferisch Sokrates damals mit der Zeitsituation umgegangen ist (ausführlich in der neuen Publikation nachzulesen). Zum einen hat er den „Dialog“ als eine besondere Denk- und Gesprächsform geschaffen, die ihm die angemessene Grundlage bot, um die Frage nach der areté auf neue Weise zu behandeln, nicht mehr in der Auflistung von Beispielen und Vorstellungen, sondern begrifflich: Was überhaupt ist diese areté? So hat er als Erster das begriffliche Denken, wie es uns heute vertraut ist, ausgebildet. Zum anderen hat Sokrates seine Mitmenschen aufgerufen, die „Sorge um die Seele“ ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu nehmen, nicht im Sinne eines persönlichen Wohlergehens, sondern im Sinne einer sozialen Verantwortung: viel wichtiger ist es, dass ich das Rechte tue, als dass ich nichts Schlimmes erleide.
Auch hier sehe ich eine Parallele in der Weise, wie die Dialogische Kultur heute die besonderen Herausforderungen an den Menschen im 21. Jahrhundert berücksichtigt. Sie fördert und fordert die Eigenständigkeit jedes einzelnen Menschen – nicht egostisch verstanden, sondern im Sinne eines Ganzen –, indem alles Handeln auf die Basis der individuellen Verantwortung gestellt wird. Das erfordert neben Selbstreflexion ein aktives Bemühen um Zusammenhang in der Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, in denen wir leben, sowie eine freie Hinwendung zu den Mitmenschen. Wie kann ich als Einzelner eigenständig und verantwortlich in der Gemeinschaft wirken und wie arbeite ich mit anderen Menschen zusammen, wenn ich ihnen dieselbe Eigenständigkeit zugestehe? So wie damals in Griechenland neue Fähigkeiten gefragt waren, die Sokrates durch seine Dialoge zu wecken suchte, so bedarf es auch heute besonderer Fähigkeiten, die man vielleicht als Ideenorientierung oder Offenheit zur Ideenfindung bezeichnen könnte. Allerdings kommt es da offensichtlich immer wieder zu Verwechslungen.
Im Hinblick auf solche Verwechslungen sind mir durch die Lektüre einige Lichter aufgegangen. Etwa zeitgleich zu Sokrates traten die Sophisten auf und verfolgten, vordergründig betrachtet, ähnliche Ziele wie er. Auch sie zeichneten sich durch eine besondere Redegewandtheit aus, ließen die Tradition hinter sich und blickten auf den einzelnen Menschen. Das führte dazu, dass Sokrates zum Teil selbst für einen Sophisten gehalten wurde! Aber anders als er setzten die Sophisten an die Stelle der areté den äußeren Erfolg im Leben als Ziel des Handelns. Wer erfolgreich sein wollte, musste sich nur ihrer Schulung unterziehen. Die Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit trat für sie dagegen ganz in den Hintergrund. Was vordergründig ähnlich aussah, das sokratische und das sophistische Denken, war in Wahrheit vom Anliegen her entgegengesetzt. Doch offenbar gelang es damals nicht vielen ihrer Mitmenschen, das zu unterscheiden.
Ich habe den Eindruck, dass wir heute in dieser Hinsicht nicht weniger Missverständnissen aufsitzen:
1) So erleben wir es öfter, dass die notwendigen Unterscheidungen nicht vorgenommen werden, wenn beispielsweise die oben angesprochene Ideenorientierung in der Dialogischen Kultur unbemerkt durch die Anwendung verschiedener Kreativitätstechniken mit einer handhabbaren Technik verwechselt wird. Sich an „Ideen“ zu orientieren heißt für mich aber zunächst einmal, mich von unterschiedlichsten Vorstellungen (die sich ja unentwegt aufdrängen!) frei zu machen, mit Fragen zu leben, sie ständig weiterzuentwickeln und daraus situativ Originalität zu schöpfen, die Eigenständigkeit ermöglicht.
2) Im Bereich des Umgangs mit sich selbst und mit anderen Menschen sehe ich ein weiteres großes Feld, auf dem es offensichtlich auch heute schwerfällt, sokratische und sophistische Haltungen zu unterscheiden. Denn „Handeln aus dem eigenen Selbst“ wird leicht verwechselt mit egoistischem Handeln oder mit Selbstoptimierung nach vorgegebenen Kategorien. Und an modernen „sophistischen“ Angeboten, bei denen ich durch entsprechendes Training meine Schwächen beseitigen und meine Stärken weiter ausbauen kann, mangelt es heute nicht. Wer sich und die anderen über verschiedene, womöglich messbare Optimierungen definiert, hat sich, ohne es vielleicht zu bemerken, aus dem Entstehungsraum des Dialogischen verabschiedet.
3) Ein weiteres Missverständnis, das sich erst seit Kurzem im Hinblick auf die Dialogische Kultur zeigt, möchte ich am Schluss nicht unerwähnt lassen: Menschen, die die Dialogische Kultur schätzen, versuchen sie mit Maßnahmen, wie z.B. definierten Kompetenzen in ihrem Arbeitsalltag „lebenspraktisch“ zu machen und bemerken dabei nicht, dass diese Maßnahmen letzten Endes aber von ihr wegführen. Sie wähnen sich noch in der Bemühung, das Dialogische weiter voranzubringen, haben im Grunde aber seinen eigentlichen Charakter aufgegeben. Denn es verschwindet sofort, wenn mit dem Ziele der sogenannten Lebenspraxis seine Intentionen und Haltungen erst abstrahiert und dann kategorisierend praktiziert werden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Menschen nach Merkmalen beurteilt und entsprechend dieser Zuschreibungen behandelt werden. Der Einzelne wird dann letztlich als Summe von Persönlichkeitsmerkmalen angesehen -also als Unterfall kollektiver Eigenschaften. Mit dem individuellen Menschen wird dabei offensichtlich nicht mehr gerechnet. Wirklich lebenspraktisch wird das Dialogische nicht dadurch, dass vorgegebene Kategorien „erfüllt“ werden, ebenso wenig, dass wunderbare Praxisbeispiele einfach nur nachgeahmt werden, sondern dadurch, dass ich immer wieder neu den Mut aufbringe, in der gegebenen Situation hier und jetzt in Verantwortung zu handeln. Anders ausgedrückt: wenn jeder Mensch sein praktisches Handeln eigenständig und situativ aus der Idee schöpft. Hier kann man viel von Sokrates lernen. Nachahmen kann man ihn nicht, ebenso wenig wie die Haltungen des Dialogischen.
In diesem Sinne freue ich mich sehr auf das Erscheinen des Sokrates-Buches.
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